Atticus, auf den bisherigen Verlauf des Gesprächs zurückschauend und die Ergebnisse reflektierend, stellt fest, dass Cicero die Herleitung der Grundlagen des Rechts sehr umfassend ausführt.

Cicero betont im nächsten Gedanken, dass es auf die Erkenntnis folgender, einfacher Wahrheit ankomme: „Wir Menschen (sind) zur Gerechtigkeit geboren, und die Grundlagen des Rechts (liegen) nicht in einer subjektiven Meinung, sondern in der Natur […]“ (Leg I, 35).

Zwei theoretische Annahmen über die Grundlagen des Rechts sind möglich: Eine, auf die subjektive Entscheidung abstellende Meinung, die im bewussten Setzen des Rechts den Geltungsgrund sieht. Ausgangspunkt ist dabei eine bewusste, pragmatische oder machtpolitisch orientierte Handlung, eine bestimmte Regelung zu statuieren. Eine von einem dazu berechtigten Akteur, individueller oder kollektiver Art, in einem festgelegten Verfahren gesetzte Norm sei dann daher legal. Dieser subjektivistische Ansatz kann als legalistische oder positivistische Sicht verstanden werden. Er bezieht sich nicht auf die Substanz des Gesetzes, sondern auf den zur Rechtsetzung berufenen Akteur.

Die ihr gegenüberstehende Sicht stellt weniger auf das zur Gesetzgebung berechtigte Subjekt ab als auf die dem Gesetz innewohnende Substanz. In dieser Herangehensweise muss die Vernunft eine äußere Form erlangen. Vernunft äußert sich im freien Handeln. Die Gesetze regeln nur das von Freiheit geprägte Handeln. Also muss innerhalb der Substanz des Gesetzes die Vernunft so wirken, dass das Gesetz die Freiheit der Menschen ermöglicht. Damit ist die Substanz des Gesetzes bestimmt: Die Sicherung der Freiheit. Daher sind nur diejenigen Regeln, die die Freiheit stärken, Gesetze im Sinne der Vernunft. Diese Gesetze unterliegen nicht einer subjektiven Willkür, sondern beziehen ihren Eigenwert aus der Freiheit.

Cicero unterstreicht außerdem die Gemeinschaft der Vernunft aller Menschen: „Das wird unmittelbar einsichtig, wenn man die Gemeinschaft der Menschen miteinander und ihre Verbindung durchschaut.“ (Leg I, 35). Daher gibt es auch keine Unterschiede innerhalb der menschlichen Gattung. Cicero ist damit fortschrittlich und in der konsequent in den Schlussfolgerungen: Es gibt keine Unterschiede der sogenannten Rassen oder Geschlechter. Der Mensch an sich besitzt allen Eigenwert in der allen Menschen zugänglichen Vernunft. Jeder ist rechtsfähig und Träger natürlicher Rechte. Das damit zum Ausdruck gebrachte Denken nimmt die gleichen Menschenrechte aller vorweg. Damit überstieg die römische humanitas die engen Grenzen des damaligen Menschenbildes.

Sein Optimismus ist bemerkenswert, seine Worte klar und seine Absicht eindeutig: „ Denn die Vernunft, durch die allein wir den wilden Tieren überlegen sind und mit deren Hilfe wir uns auf Vermutungen stützen können, Beweise führen, widerlegen, Erörterungen anstellen, etwas zu Ende denken und Schlußfolgerungen ziehen ist gewiß allen gemeinsam: obwohl sie dem Grad ihrer Ausbildung nach unterschiedlich entwickelt ist, so ist sie doch hinsichtlich ihrer Lernfähigkeit gleich.“ (Leg I, 35).

Die auf der Vernunft gegründeten Rechte sind ebenso universal wie die Vernunft selbst. Der Mensch ist Träger dieser und mit dem Göttlichen verbindenden Kraft. Das Recht kann nicht nur eine willkürliche Setzung sein, deren Gültigkeit dann sonst von äußeren Bedingungen abhängig wäre. Damit ist eine Entscheidung getroffen zwischen subjektiver und substantieller Grundlage des Rechts.

Marcus Tullius Cicero De Legibus – Erstes Buch (Seite 35)

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