Cicero über die Gründung des Staates als Rechtsgemeinschaft
„Wenn man nämlich die Vermögen gleichzumachen nicht gewillt ist, wenn die Begabungen aller nicht gleich sein können, müssen sicherlich die Rechte derer unter sich gleich sein, die Bürger in demselben Gemeinwesen sind. Was ist denn der Staat, wenn nicht Rechtsgemeinschaft der Bürger?“ (De re publica I, 67).
Dieser argumentative Ansatz der Staatsgründung wird erst in der neuzeitlichen Staatstheorie mit dem vertragsrechtlichen Ansatz wieder erreicht. Hier liegt das entscheidende Moment in der willentlichen und wissentlichen Normierung einer Gesellschaft durch die Bürger. Es ist eine konstitutionelle Selbstbestimmung durch eine allgemeinverbindliche Übereinkunft zur Wahrung der vorstaatlichen Rechte aller. Die in der Spätantike aufkommende religiöse Begründung, die dann zur späteren Zwei-Reiche-Lehre führte, bezieht sich auf eine transzendente Ebene, Gott. Die göttliche Substanz war jedoch im römischen Republikanismus von Cicero bereits artikuliert worden: Die Götter verbürgen die natürlichen Rechte. In dem spätantiken, religiösen Rechtfertigung erhält diese göttliche Transzendenz ein stärkeres Gewicht: Hier ist es der Wille eines Gottes, der sich in den Staaten zum Ausdruck bringt. Der Mensch, als Träger individueller, vorstaatlicher Rechte verschwindet. Durch eine aufgeklärte Neubewertung der Bedeutung des transzendenten Bezuges, von der konstitutionellen Priorität hin zur ideellen Absicherung, gelang es denn Staatstheoretikern wie Hobbes und Locke mittels der modernen Vertragstheorien an Cicero anzuknüpfen.
Somnium scipionis – Scipios Traum
Das staatsphilosophische Hauptwerk Ciceros De re publica ist nur fragmentarisch überliefert, es blieb sogar jahrhundertelang verschollen, bis Angelo Mai es auf einem Palimpsest entdeckte. Darauf wurde der ursprüngliche Text Ciceros abgeschabt und – der Knappheit des Pergaments geschuldet – mit einem Psalmkommentar von Augustinus überschrieben. Doch Cicero setzte sich durch und so konnte ein unschätzbares Werk der politischen Philosophie der Antike vor dem Vergessen gerettet werden. Der wiederhergestellte Text ist größtenteils lückenhaft, ganze Kapitel fehlen, aber die bis dahin nur in Zitaten überlieferten Gedanken Ciceros über das Gemeinwesen fanden in ihre ursprüngliche Form zurück.
Das Siebte Buch war jedoch in Gänze bereits aus der Antike überliefert: Es trägt den Titel Somnium Scipionis. Seine Besonderheit ergibt sich aus dem dargestellten Inhalt: Scipio Aemilianus, der Sieger des Dritten Punischen Krieges, berichtet von einem Treffen mit dem numidischen König Masinissa. Sie führen ein langes Gespräch über ihre Gemeinwesen. Im nachfolgenden Schlaf zeigte sich dann im Traum Africanus, sein Großvater, um ihm das Geheimnis des politischen Lebens zu enthüllen.
Cicero bemerkt in dieser Darstellung zum einen in pragmatischer Hinsicht, dass sich viele der Gespräche des Tages in den anschließenden Träumen widerspiegeln: „(…) es geschieht nämlich wohl, daß unsere Gedanken und Gespräche etwas Ähnliches im Schlaf hervorbringen, wie es Ennius über Homer schreibt (…)“ (De re publica, 259). Zum anderen manifestiert sich erneut das Ideengebäude Platons in seiner göttlichen Fundierung, in seiner kosmischen Form und in seiner Bedeutung für die Seele: „Wenn sie die einzige von allen Naturen ist, die sich selbst bewegt, ist sie sicher nicht geboren und ewig.“ (De re publica, 277). Der Mensch ist wesentlich beseelt, die Seele ist die immanente Lebenskraft, die den Leib bewegt ohne selbst bewegt zu sein. Sie ist daher in sich unabhängig und frei. Damit erst erhält der Mensch seinen Wert als freies Wesen. Gleichwohl müssen wir uns in der Gemeinschaft bewähren, in dem politischen Gemeinwesen. Das öffentliche Leben erhält also durch diesen Traum Scipios den prinzipiellen Abschluss und der Traum Scipios vollendet, was die Verfassungsdiskussion begann.
Träume offenbaren nicht eine andere Wahrheit, sie lassen die Wahrheit anders erleben.
