Über die Aufgabe, philosophische Gedanken zu erfassen
In vielen Zeiten des Lebens neigt der Mensch zu philosophischen Gesprächen. Das können innere Zwiegespräche oder Dialoge mit anderen Menschen sein. Nun bietet das Leben tatsächlich unzählige Anlässe, das Geschehen in ruhigen Minuten zu reflektieren. Die Philosophie, in dieser Auslegung als das Bedenken des eigenen Lebens, ist dem Menschen unendlich nahe, sie ist dann eine besonders intensive Form der inneren Selbstreflexion und führt zu Handlungsvorschlägen. In diesem Rahmen ist die persönliche Meinung angemessen. Jeder mag so vorgehen, wie er es für richtig hält.
Wenn jedoch von einer persönlichen Betroffenheit abgesehen wird und kein Rat in moralischer Hinsicht für ein angemessenes Verhalten gesucht wird, dann treten die Sachfragen selber in den Mittelpunkt. Auf dieser Ebene werden Fragen wie das Sein und das Werden, die Seele, die Vernunft und die Freiheit thematisiert. Dies betrifft ihren grundsätzlichen Charakter, nicht ihre Auswirkung auf die menschliche Existenz in einer konkreten Situation. Diese Dimension hinterfragt das Wesen dieser Begriffe.
Auf der ersten, der empirischen Ebene fällt es leicht, sich den Problemen zu nähern, weil sie hier als Phänomene der Vorstellung unmittelbar zugänglich sind und ein Verständnis oft aus der eigenen Erfahrung schöpfen kann. Das Leben, als Kette freiwilliger oder notwendiger Abläufe, bietet stets die Gelegenheit, diese Geschehen zu hinterfragen und zu kritisieren.
Wesentlich komplexer, weil auf einer abstrakteren, nämlich begrifflichen Ebene lokalisiert, ist die Herangehensweise, die eigenständig philosophischen Probleme zu beleuchten. Dies verdeutlicht folgendes Beispiel: Ein Ausdruck wie der der Seele ist zunächst nominal ein Begriff, über deren wirkliche Entsprechung damit noch keine Aussagen getroffen wurden. So kann die Philosophie mit der Frage beginnen: Ist mit dem Ausdruck Seele bereits eine ontologische Entscheidung über dessen Wahrheit eingeräumt oder ist es lediglich eine sprachliche Zeichenkombination? Über diese Auseinandersetzung entstanden entgegengesetzte philosophische Schulen und Ansätze zur Klärung einer Frage, die bis heute ungelöst ist. Nun setzt aber die weitere philosophische Untersuchung bereits eine Entscheidung über den Gegenstand voraus.
Zugegeben kann bei der Frage nach der Natur der Seele des Menschen berechtigterweise angenommen werden, dass unser Bild des Menschen seit der Antike unzertrennlich mit der Annahme eines inneren Kerns verbunden ist, der uns als ein besonderes Lebewesen auszeichnet. Dazu gehört neben der Vernunft auch die Annahme einer Kraft, die als Seele zu bezeichnen die Philosophie seit der griechischen Naturbetrachtung vorgeschlagen hat.
Aber die Seele macht es dem Denken nicht einfach – wir bemerken ihre Kraft, aber wenn wir sie mit den Gedanken begreifen wollen, ziert sie sich. Zu den andauernden Leistungen der Philosophie Platons gehört die Darstellung der Seele als ein dreigegliedertes Ganzes: Neben der Vernunft sind das der Mut und die Begierde. Die genaueren Ausführungen sind neben der Politea auch im Werk Phaidon zu finden. In diesem Dialog berichtet Phaidon nach dem Tode des Sokrates von dessen Auffassung über die Seele. Die Vorstellungen Platons sind von einer starken inneren Überzeugung über ihre Wahrheit gekennzeichnet. Damit lassen sie wenig Platz für Ergänzungen oder Korrekturen. Sie sind gewiss getragen von einer ernsthaften Suche und von einem durchdachten Abwägen, aber in ihrer Geschlossenheit auch problematisch.
Marcus Tullius Cicero berichtet in dem Werk Gespräche im Tusculum – Erstes Buch nun von einem Dialog mit seinem philosophischen Freund, dem späteren Caesar-Mörder Brutus. Brutus wünscht sich von Cicero eine philosophisch überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele. Cicero hingegen, der grundsätzliche Skeptiker, verweist auf die Wahrscheinlichkeit der Antworten. Wir sind schwankend: Einerseits ist der Status der Seele unklar, andererseits ist der geistige Reichtum des Menschen ohne Seele unvorstellbar. Was sichert nun die Seele? Im Laufe des Gespräches berichtet auch Brutus von seiner Lektüre der platonischen Dialoge über die Seele, deren Antworten ihn in einer bezeichnenden Weise entglitten. Cicero forderte Brutus auf, die Werke von Platon über die Seele zu lesen, doch Brutus empfand sie als letztlich unklar:
„Ich habe es ja getan und sogar öfters; solange ich es lese, bin ich überzeugt, aber sobald ich das Buch beiseitegelegt habe und für mich allein über die Unsterblichkeit der Seele nachzudenken anfange, entgleitet mir irgendwie jene ganze Überzeugung.“ (Gespräche im Tusculum, Erstes Buch, 31).
Dies verdeutlicht die Schwierigkeit der philosophischen Lektüre. Ein Text, so also auch eine philosophische Lektüre, ist das Produkt eines anderen Denkens. Eine bestimmte Intention veranlasste ihn, konkrete, rational nachvollziehbare Argumente tragen ihn und allgemein verständliche Worte stellen ihn dar. Gleichwohl bleibt es bei der Trennung Autor und Leser. In der Regel sind die Begriffe mit gemeinsam verständlichen Inhalten verbunden, doch die Produktion eines Gedanken unterscheidet sich wesentlich von der passiven Rezeption des Gedanken. Die Lektüre muss beide Seiten miteinander vermitteln, um sich dem Inhalt wesentlich zu nähern.
Ein Unbehagen trat bei Brutus auf, weil die begriffliche Erfassung nach der Lektüre des Platon-Textes undeutlich wurde. Wie kann also das Verstehen gelingen? Damit wird jedoch nicht gesagt, dass die gelungene Rezeption unkritisch bleiben muss. Vielmehr kann sich die Kritik jedoch erst dann als konstruktiv zeigen, wenn sie von einem gesicherten Verständnis des Gesagten ausgeht.
Wie also sind philosophische Texte zu lesen, wenn sich zeigt, was Brutus beschrieb: Überzeugungen bilden sich beim Lesen, aber verschwinden, wenn der Gedankengang des Textes verlassen wird? Die Beschreibung von Brutus soll einen Hinweis geben auf die Arbeit, die mit dem Verstehen eines philosophischen Textes verbunden ist. Im Sinne eines angemessenen Verstehens ist dem Text zunächst zuzugestehen, dass er in sich schlüssig ist und verstanden werden kann. Es geht dann in einem weiteren Schritt um ein argumentatives Einlassen auf die Gedanken. Die Abfolge der Gedanken ist durch die feste Struktur des Textes vorgegeben, trotzdem findet sich eine innere Dynamik, die verfolgt werden kann. Philosophisches Nachdenken bedeutet daher ein wohlwollendes Einlassen auf die Gedanken in ihrer Fülle. Und Tiefe und Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit verstanden als die Annahme, dass in einem Gedanken ein wahrer Gehalt zu finden ist.
Cicero über das Erlangen der Weisheit
In seinem Werk Über die Ziele des menschlichen Handeln bemerkt Marcus Tullius Cicero über die Philosophie: „Falls es nämlich möglich ist, zur Weisheit zu gelangen, dann muß es uns daran liegen, sie nicht nur zu erwerben, sondern sie auch für uns nutzbar zu machen; sollte sich dies als schwierig erweisen, so darf man doch mit dem Suchen nach der Wahrheit nicht eher aufhören, als man sie gefunden hat; es wäre beschämend, im Suchen zu ermüden, wo das, was gesucht wird, der vollkommenste Gegenstand ist.“ (Ziele menschlichen Handelns, 9).
An dieser Textstelle zeigt sich repräsentativ ein Wesensmerkmal der philosophischen Herangehensweise Ciceros: Er versteht es mit einfachen Worten prägnant einen komplexen Sachverhalt zu beschreiben und dessen Kern argumentativ darzustellen. Diese Leistung beruht auf der Übereinstimmung von begrifflichem Inhalt und Ausdruck in Worten. Angestrebt wird in dieser Textstelle die Erkenntnis einer für den Menschen wesentlichen Wahrheit. Diese wird jedoch zunächst als eine hypothetische Annahme, als ein Wunsch beschränkt dargestellt: „Falls es nämlich möglich ist, zur Weisheit zu gelangen (…)“.
Dadurch wird das Suchen von einer verfestigten Erwartung befreit. In dem so befreiten Raum bewegt sich das Denken spontaner und kreativer. Dieser Gedanke fasziniert, weil er sicher einerseits eine Erkenntnis der Weisheit erhofft, aber gleichzeitig auf die Kraft des freien Denkens vertraut. Der Begriff der Möglichkeit löst den Menschen von Zwängen. Cicero lässt formal den Erwerb der Weisheit offen, doch die Fortführung erläutert anschließend die Folgen.
Denn nun folgt eine Erweiterung: „dann muß es uns daran liegen, sie nicht nur zu erwerben, sondern sie auch für uns nutzbar zu machen(…)“.
Die philosophische Weisheit, wie sie auch immer zu bestimmen ist, ist keine rein theoretische Einsicht, getrennt und abstrahiert vom Leben. Denn ein Erwerb bezieht sich auf den passiven Besitz einer Sache oder Fähigkeit, doch damit würde der Weisheit ein wesentlicher Bestandteil entzogen. Weisheit bezieht sich immanent auf einen Umgang des Menschen. Sie drängt zur Aktivität, sie ist ein dynamischer Prozess, der einen Bezug auf den erwerbenden Menschen hat. Weisheit muss nutzbar in den Handlungen des Menschen sein.
Cicero bleibt sich dabei den tatsächlichen Problemen bewusst: Viele Entwürfe, Schemata und vermeintliche Erklärungen drängen sich im Leben auf. Eine oberflächliche Betrachtung oder eine einseitige Analyse von Begebenheiten führt oftmals zu verkürzten Wahrnehmungen, die sich dann zu Fehlurteilen oder Vorurteilen verfestigen. Dies mag so gedeutet werden, dass je schneller oder je einfacher eine Wahrheit erkannt zu sein scheint, desto ferner sie von der wahren Erkenntnis ist. In einer beschleunigten Zeit mag der schnelle Überblick zu einem verkürzten Urteil führen, doch ist damit dann der Wahrheit genüge getan? Cicero bezweifelt dies mit gutem Grund, bleibt aber trotzdem optimistisch, weil er immer wieder zum Neuanfang, zum eigenen kritischen Blick anregt und zum Mut auffordert, eigene Fehler einzugestehen. Dieser Weg wird lang sein, aber die Länge widerspiegelt den Ernst der Suche.
Die anfängliche formulierte Möglichkeit einer Erkenntnis der Weisheit wird also zunehmend überzeugter in der Absicht. Eine abschließende Erkenntnis der Wahrheit ist zwar nicht gesichert, umso verpflichtender ist jedoch die Suche. Damit ist ein Element der Freiheit systematisch enthalten, denn zum Wesen der Suche gehört der Irrtum, der Rückschritt. Beide können jedoch ertragen werden, wenn die Sehnsucht nach der Wahrheit zum neuen Suchen führt. Die Philosophie lässt sich darauf ein, weil der Geist des Menschen sich eben nicht linear entwickelt, sondern gerade aus dem Zweifel Kraft gewinnt. Von dieser Kraft getragen, schreitet das Suchen dann fort.
„(…)es wäre beschämend, im Suchen zu ermüden, wo das, was gesucht wird, der vollkommenste Gegenstand ist.“
Cicero versteht es daher den realistischen Ansatz des Zweifels mit dem optimistischen Hoffen auf das Gelingen zu verbinden. Er spricht Vertrauen und Geduld an. Das Vertrauen wächst aus dem Suchen und die Geduld erträgt den Weg. Dies gilt es zu gewinnen.
Über das Auffinden von Wahrheit
Die philosophische Skepsis verdient Lob, nicht weil sie die Möglichkeit von Wahrheit verneint, sondern weil sie zu dem anregt, was Philosophie grundsätzlich auszeichnet: die Suche. Die Philosophie, wörtlich die Liebe zur Weisheit, erachtet die Erkenntnis der Wahrheit einer Sache als möglich, doch sie erweitert diese Tätigkeit durch den prozessualen Charakter, sie betont den persönlichen Aspekt und sie erhöht Wahrheit zur Weisheit. Indem die Skepsis zunächst einmal die absolute Erkenntnis einer Wahrheit ausschließt, verpflichtet sie zur umfassenden Beschäftigung mit neuen Erwägungen, sie führt auch zur selbstkritischen Beschränkung des Einzelnen und dennoch bleibt in ihr die Hoffnung gegenwärtig.
Jede Aussage kann prinzipiell falsch sein – dies ist die Annahme des skeptischen Denkens.
Daraus folgt, dass sie eben nicht nur ein bloßes Ablehnen vermeintlicher Wahrheiten ist, sie regt vielmehr an, in der Suche selbst einen Sinn des Suchens zu finden: Denn es ist das Denken als Denken, wodurch der Mensch seine Würde erhält und findet. Eine, vielleicht auch noch beschränkte Wahrheit wird dadurch zur Weisheit, dass sie für uns einen Sinn macht.
In schönen Worten beschrieb Cicero diesen Ansatz der eigenen Bescheidenheit, der aber auch dem ernsthaften Suchen verpflichtet ist: „Ich will nämlich die Wahrheit finden und nicht den anderen einfach wie einen Gegner überwältigen.“ (Ziele menschlichen Handelns, 17).
Aus der Liebe zur Weisheit resultiert eine Zuneigung zur Wahrheit, die die persönlichen Differenzen überbrücken mag. Es geht um die Sache selbst: „Ich werde sicherlich nicht eigensinnig sein“, sagte (Cicero), „und Dir gerne zustimmen, wenn das, was du sagen wirst, mich überzeugt.“ (Ziele menschlichen Handelns, 31).
Die Skepsis bewirkt also ebenfalls eine innere Offenheit für das Neue. In der Geschichte der Philosophie bekämpften sich Standpunkte und Ansichten, die sich dann zu dogmatischen Meinungen verfestigten, aber auch dadurch aufhörten, Philosophie zu betreiben. Man mag fast formulieren, dass je fester ein Standpunkt vertreten wird, er desto unklarer in der inneren Begründung ist. Diese Unsicherheit zeichnet die Skepsis nicht aus, denn sie bezieht von vornherein das Unklare mit ein, betrachtet es nüchtern, aber findet in der Suche den Halt, aus dem heraus dann doch wieder Gewissheit wachsen kann.
Cicero über uns
Cicero, der römische Rechtsanwalt und Politiker, war in der römischen Senatsaristokratie ein Aufsteiger aus Arpinium. Vor dem Hintergrund, dass die Taten der Vorfahren ausstrahlten auf die späteren Generationen, ist die Bedeutung verständlich, die dem Andenken an die Menschen zukam. Cicero befreite Rom von den Umsturzplänen Catilinas, verteidigte die republikanische Ordnung gegen die Monarchie und unterlag am Ende. Gleichwohl war sein Tun getragen vom Bewusstsein das Rechte und Gute zu tun. Über diese Werte sollten die späteren Generationen urteilen. Daher legte er viel Wert auf das Ansehen späterer Generationen. Es ist der Blick aus der Zukunft auf Cicero und er meinte – zu Recht – diesem Urteil begegnen zu können.
Ein anderer Blick wäre der von Cicero auf die Zeit nach ihm. Dies kann sicherlich nur ein hypothetischer Blick sein. Aber wie wäre sein Urteil ausgefallen über die Prinzipat, die Herrschaft der Caesaren, das Aufkommen eines bürokratischen Staates, eines Imperiums, das zunächst große Teile Europas erobert und dann zusammenbricht und Platz macht einer Epoche, die wir heute das Mittelalter nennen? In dem das Wissen der Antike verschüttet wird, Kriege und Gewalt zunehmen und die Religion eine Stellung einnimmt, die sie im toleranten Rom niemals gehabt hätte? Vielleicht wäre ihm, dem realistischen Beobachter, diese Struktur nicht so fremd erschienen? Gewalt muss durch das Recht bezwungen werden und nur eine Verfassung vermag einen freien Staat begründen. Cicero hätte seine Freude daran, dass der verfassungsrechtliche Begriff der Republik auf ihn zurückgeht. Er würde an vielen gegenwärtigen Diskussionen unmittelbar teilnehmen können und hätte viel zu sagen. Seine Sprache ist nicht mehr die Unsere, aber seine Gedanken sind gegenwärtig.
Cicero über das Ansehen der Philosophie
„Denn die Philosophie ist mit wenigen Richtern zufrieden, meidet mit Absicht die Menge und ist gerade verhaßt und verdächtig(…)“
So bestimmt Marcus Tullius Cicero im zweiten Buch der Gespräche in Tusculum das Ansehen der Philosophie. Sie steht stellvertretend für die Suche und die Sehnsucht nach Wahrheit, nicht für die Wahrheit selbst. Die skeptische Erkenntnislehre betont den Weg, den Prozess und die ihm zugrundeliegende Motivation. Dies setzt die Erfassung eines komplexes Vorganges voraus, der eben voraussetzungsreicher ist als eine vermeintlich schnell erfasste Wahrheit oder das, was als Wahrheit vorgegeben wird. Diese Bedeutung der Philosophie lässt sich auf die Sache selbst ein, nicht auf die Umstände. Zu den nicht-notwendigen Umständen gehören daher die Zahl der ihr verpflichteten Menschen, das Ansehen in der Menge und der Umgang mit ihr. Eine dogmatische Philosophie findet umso leichter den Zuspruch der Menge, wenn sie das behauptet, was jene verlangen, sie knüpft an vorhandene Stimmungen und macht sich brauchbar. Dies alles trifft – nach Cicero – auf den Anspruch der skeptischen Philosophie nicht zu: sie bleibt frei.
Cicero über das wahrscheinliche Wissen
Was kann man gewiss wissen? Die Neigung einiger Philosophen, die endgültige Wahrheit einer Sache erkannt haben zu wollen, ist hinlänglich bekannt. Als deren letzter Vertreter kann Georg Wilhelm Friedrich Hegel betrachtet werden. Im Schatten Hegels stand ähnlich ehrgeizig Karl Marx. Beiden Systemen war gemeinsam, dass sie der Welt die vermeintlichen Gesetze ihrer Entwicklung vorschreiben wollten. Bei Hegel war es die innere Selbstentwicklung des Weltgeistes, bei Karl Marx die Widersprüche der Ökonomie. Die tatsächliche Entwicklung widerlegte jedoch diese Ansätze. Wie fällt also der Anspruch der Philosophie aus? Ist es nicht so, dass unsere Vernunft begrenzt, das Erkennen oftmals einseitig und der Umfang des Wissens klein sind?
Cicero erinnert uns in seinem Werk Timaeus daran. Das menschliche Erkennen ist begrenzt, aber nicht hoffnungslos oder sinnlos. Vielmehr geht es um die Wahrscheinlichkeit einer Erkenntnis. Auf dem schmalen Pfad der Erkenntnis bietet die Beschränkung auf die Wahrscheinlichkeit einen Schutz gegen anmaßendes und einseitiges Denken.
„Wenn wir also gerade vom Wesen der Götter und vom Ursprung des Alls handeln und das, was wir herzlich gern wollen, nicht so ganz erreichen, dass nämlich die ganze Abhandlung durchsichtig und klar aufgebaut ist, in sich konsistent ist und in jedem Teil mit sich selbst übereinstimmt, wird das gewiss nicht verwunderlich sein, und ihr werdet euch damit zufrieden geben müssen, wenn Wahrscheinliches formuliert wird; es ist nämlich billig, sich daran zu erinnern, dass ich, der ich hier spreche, nur ein Mensch bin, und das gleiche auch für euch gilt, die ihr darüber ein Urteil abgeben wollt; also sollt ihr, wenn Wahrscheinliches ausgeführt wird, nichts darüber hinaus verlangen.“
Cicero war Skeptiker, gleichzeitig auch Platoniker, aber beide Positionen sind durchaus miteinander vereinbar. In der Beschränkung des Wissens liegt vielmehr ein Reichtum, denn gerade das Unvollständige führt zur Freiheit, das bereits Verstandene zu vertiefen. Daraus folgt in methodischer Hinsicht, dass eine Erkenntnis nur solange gültig sein kann, bis eine vertiefte Einsicht sie korrigiert oder präzisiert.
