Von Sappho zu Hypatia
Die Antike ist eine Epoche, die uns gleichermaßen fern wie auch nahe ist. Die Ferne ergibt sich aus der zeitlichen Distanz. Die Nähe wiederum resultiert aus der Einsicht, dass viele der heutigen Gedanken, Prinzipien und Organisationsformen in einer langen Begründungskette auf die Überlieferungen aus der Antike zurückverweisen. Das Nahe ist oftmals vertraut und bekannt, aber trotzdem bemerkenswert und verdient Beachtung.
Der Begriff der Antike freilich ist ein rückblickender Begriff, der erst erscheinen konnte, nachdem die Epoche selbst vergangen war. Er leitet sich aus dem lateinischen Begriff für das Altertümliche, Altehrwürdige her. Die Einteilung der Geschichte in Epochen ist ein Anliegen, das über die reine Aneinanderreihung von Ereignissen hinausreicht – es sollen mit den benannten Epochen grundsätzliche Strukturen und Prinzipien angenommen werden, die für eine Zeit charakteristisch sind. Dies ist der Ansatz der Geschichtsphilosophie, die entweder in der Geschichte eine immanente Entwicklung erkennt, wie beispielsweise eine zunehmende Verwirklichung der Freiheit, oder die nur den Zufall wirken sieht. Was aber zeichnet die Epoche der Antike aus?
In politischer und philosophischer Hinsicht kann zur Erläuterung der Antike die kulturelle und militärische Dominanz der griechischen Staaten und Roms benannt werden. Auch wenn die griechischen Staaten wie Athen und Sparta nicht als Einheitsstaaten Griechenland dominierten und Makedonien unter Alexander dem Großen dies nur zeitweise gelang, so war die Lage ab dem Dritten Punischen Krieg für Rom eindeutiger. Kein ernsthafter Konkurrent trat Rom bis zum Beginn der Völkerwanderung für die kommenden sechs Jahrhunderte entgegen. Infolgedessen konnte – durch die philosophische und kulturelle Integration der unterworfenen Völker bedingt – Rom zur hegemonialen Macht aufsteigen und die Epoche der Antike prägen. Es ergaben sich erste Ansätze eines Verfassungsstaates, der bereits eine systematische Machtbegrenzung kannte. Die Antike war daher wesentlich durch den Aufstieg, die Blühte und den Zerfall Roms geprägt.
Es ist bezeichnend, dass in der Geschichte – anders als in der Naturwissenschaften – die Abgrenzungen der Epochen nicht eindeutig möglich sind. Dies ist vor dem Hintergrund verständlich, dass bereits in vorhergehenden Zeiten sich das Neue ankündigt, wächst, aber noch nicht zur vollen Entfaltung kommt. Dies gilt gleichfalls für das Ende einer Epoche, wenn eine Kultur scheinbar noch lebendig ist, aber bereits Kräfte wirken, die sie überwinden werden. Es ist anerkannt, dass für die Epoche der Antike jedenfalls die Zeit ungefähr von 800 v. Chr bis 600 n. Chr anzusehen ist. Damit sind zum einen das nach-homerische Zeitalter der ersten Polis-Bildungen, der Stadtstaaten in Griechenland, und zum anderen der Zerfall des weströmischen Reiches und die Dominanz der Merowinger gemeint. Dies ist tatsächlich eine epochale Zeitspanne, die mit einer regionalen Machtverlagerung von der Ägäis nach Mitteleuropa und einer neuen Kultur verbunden ist.
Als anderen Vorschlag könnte man für die Bestimmung der Antike das Wirken zweier Frauen bedenken, deren Leben wie Denken in besonders eindrucksvoller Weise die Antike und deren Geist widerspiegelten. Es handelt sich um die Dichterin Sappho von der Insel Lesbos und um die Mathematikerin Hypatia aus Alexandria. Beide Frauen waren durch ein unsichtbares Band ihrer Ideen verbunden, das die Antike in philosophischer Weise umspannte.
Sappho, 630 bis 570 v. Chr, war eine Dichterin, die sehr anmutig über die eigenen Gefühle als Frau nachdachte und zum ersten Mal das Ich in ihren Gedichten benannte. Dies ist umso bedeutsamer als zum einen Frauen zu dieser Zeit kaum eine kulturelle Rolle spielten und zum anderen auch der Blick in das eigene Innere noch nicht erwacht war. Viele ihrer Gedichte und Lieder sind verlorengegangen oder wurden vernichtet, weil sie als Frau in einer bemerkenswerten Tiefe über sich selbst bewusst wurde. Ihr Einfluss war derart groß, dass selbst Platon, der größte antike Philosoph, sie als zehnte Muse bezeichnete, als eine göttliche Inspiration. Cicero berichtete später im Zuge seiner Anklage gegen den Kunsträuber Verres, dass dieser auch eine Bronzestatue von Sappho gestohlen habe. Diese auf den Künstler Silanion zurückgehende Statue verweist auf die Wertschätzung, die dieser Frau in der Antike entgegengebracht wurde. Viele ihrer Texte wurden als anzüglich verstanden, als eine religiöse Zensur auftrat. Ihre eigentümliche Größe bestand darin, das Ich selbstbewusst zu bedenken, ihre Gefühle zu benennen und somit die Epoche der Antike zu prägen. Der Mensch erkennt sich in seiner Größe.
Hypatia aus Alexandria, 355 bis 416 n. Chr, war eine neuplatonisch inspirierte Mathematikerin, Astronomin und Philosophin. Sie lebte in einer Zeit des Aufstiegs des Christentums, das bereits zur Staatsreligion im Römischen Reich wurde. 395 kam es zur Reichsteilung in das weströmische und das byzantinische Reich. Die religiös-kulturelle Dominanz des Christentums war jedoch allgegenwärtig, wenngleich es noch heidnische Kräfte in der Gesellschaft gab. Für die Stellung der herausragenden Mathematikerin ergab dies bedeutende Probleme, schließlich wurde sie Opfer eines politischen Machtkampfes. Für ihre neuplatonische Weltsicht war die Geringschätzung der körperlichen Welt charakteristisch. Ihr Ansatz war es die platonische Philosophie in der Öffentlichkeit zu unterrichten. Damit stand sie in der Tradition der antiken Philosophen, doch in der zunehmend von religiösen Verboten geprägten Gesellschaft fehlte die notwendige Toleranz. Das Mittelalter kündigte sich an. Mit Hypatia wurde eine bemerkenswerte Frau ermordet, eine selbstbewusste Philosophin eines vergangenen Zeitalters.
So kann die Antike auch als die Zeit von Sappho zu Hypatia beschrieben werden. Sappho repräsentierte als Dichterin den ungezwungenen, freien und kraftvollen Anfang einer erwachenden Idee. Ihre eigene Persönlichkeit war von Unabhängigkeit, aber auch von der Suche nach Anerkennung, Liebe geprägt. Ein freies Ich suchte die freie Liebe zum Anderen. Die Gründe, warum Platon sie zur Muse erklärte, sind offenkundig. In Sappho zeigt sich der freie Mensch. Hypatia war hingegen die klare, mutige, systematisch denkende Mathematikerin, die selbstbewusste Philosophin und die stolze Frau. Sie lebte in Zeiten, als die Freiheit schon latent bedroht war durch Regeln einer Gesellschaft, die sich änderte. Zwischen den Leben beider Frauen ereignete sich die Antike, lehrte Sokrates, trat Platon auf, bildete sich die Römische Republik, verteidigte Cicero die Freiheit und blühte Rom wirtschaftlich auf, aber zu Lasten seiner inneren Verfassung. Die Antike endete als Kulturepoche mit dem Tod von Hypatia bereits vor dem politischen Untergang des weströmischen Reiches 476 n. Chr. Doch an den persönlichen Leistungen änderte dies nichts. Sappho und Hypatia sind nicht vergessen.
