Die Struktur der Argumente von Cicero war systematisch aufgebaut: Den Menschen zeichnet eine doppelte Zugehörigkeit aus. Als körperliches Wesen unterliegt er den Gesetzen der Natur. Konflikte über begrenzte Ressourcen führen zu Auseinandersetzungen, die – damit beginnt die Zugehörigkeit zur Vernunft – in einem rationalen Prozess der Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung friedlich geregelt werden können. Cicero identifiziert – Platon nachfolgend – einen Reichtum von geistigen Fähigkeiten, die in der Seele angelegt seien. Aus der Selbsterkennung der Seele erweist sich, dass die Vernunft des Menschen das Gute als Richtschnur des Handelns erkennt, weil das Gute eben den unendlichen Eigenwert in sich selbst hat. Der Mensch kann daher das Gute um des Guten willen tun. Mit diesem Prinzip ist der Anfang einer Begründungskette angelegt, aus der heraus der Mensch zum sittlichen Handeln fähig ist.

Dieser Argumentation kann man zustimmen, sie kann aber auch als rein persönliche Meinung in ihrer allgemeinen Geltung bestritten werden. Dies wäre eine Form des Subjektivismus, der jede Meinung zwar als Meinung anerkennt, ihr aber keinen Wahrheitsgehalt zuspricht. Jede Meinung hätte dann, unabhängig von ihrer inneren argumentativen Struktur, den gleichen Stellenwert. In Folge würde aber damit auch grundsätzlich die Wahrheitsfähigkeit jeder Aussage bestritten werden. Eine Diskussion von Argumenten wäre vor dem Hintergrund dieser theoretischen Vorentscheidung nicht mehr möglich.

Cicero erkennt dieses Problem: „Aber anzunehmen, daß dies (die systematische Entwicklung des Rechtsbegriffes aus der platonischen Idee des Guten) auf bloßer Meinung beruhe und nicht den natürlichen Gegebenheiten entspreche, ist völlig abwegig.“ (Leg. I, 51).

In der Philosophie, auch bereits zu Ciceros Zeiten, wurden verschiedene Gedankensysteme entwickelt und es stellte sich die Frage, ob eines, keines oder alle gültig sind. Während Epikur die Existenz einer eigenständigen Seele vor dem Hintergrund seiner materialistischen Grundannahme bestritt, war eben die Aussage für Platon zentral: erst die Seele ist das eigentliche Wesen des Menschen. Beide Aussagen können falsch sein, aber beide Aussagen können nicht gleichzeitig richtig sein. Oder allgemeines formuliert: Es ist unmöglich, dass zwei sich widersprechende Aussagen gleichzeitig gültig sind. Daher stellt sich die Frage der Wahrheit: Ist die Wahrheit eine im Objekt liegende Eigenschaft oder bezieht sie sich auf das erkennende Subjekt, das mit seiner Meinung einen Sachverhalt beurteilt?

Cicero plädiert eindeutig im Sinne einer in der Sache liegenden Wahrheit. Dem stellt er nachdrücklich die Meinung gegenüber als etwas, dem keine Wahrheit zukommt. Eine Meinung kann sich ändern, sie ist oftmals nicht aus einem Prozess des Erkennens geboren, sondern spontan, willkürlich und schwankend. Cicero vertritt zwar einen methodischen Skeptizismus, der jedoch nur aus den begrenzten Möglichkeiten des Menschen und seinen Fehlern resultiert, in der Sache jedoch setzt er eine objektiv existierende Wahrheit beispielsweise des Rechts voraus.

Er verdeutlicht dies an dem Begriff der Tugend. In einem übertragenen Sinne könne man von der Tugend eines Pferdes oder eines Baumes sprechen, die eben nicht aus der Meinung der Betrachter resultieren, sondern in der Natur der Sache selbst liegen. Es geht darum die angemessenen Maßstäbe aufzufinden, die zu diesen Bewertungen führen. „Denn wie Wahres und Falsches, Folgerichtiges und Widersprüchliches nach eigenen, nicht nach fremden Maßstäben beurteilt werden, so wird auch die beständige und unablässige Bestimmung des Lebens  durch die Vernunft, das heißt die Tugend, und ebenso die Unbeständigkeit, das heißt die Lasterhaftigkeit, nach ihrer besonderen Natur beurteilt.“ ( Leg I, 51).

Entscheidend dann die Aussage: „Das Gute selbst beruht nämlich nicht auf bloßen Meinungen, sondern auf der Natur.“ ( Leg I, 51).

Dies ergibt sich zum einen aus der systematischen Herleitung. In einem argumentativen Rückblick entwickelte Cicero diejenigen Ideen, die sich aus dem Begriffen Recht, Gesetz und Vernunft ergaben. Diese Schritte führten dann in der Konsequenz zur Annahme einer Idee des Guten. Nur vor der Annahme ihrer Wahrheit konnte die systematisch nachfolgenden Schritte entwickelt werden.

Cicero räumt zum anderen ein, dass die Menschen oft durch die Verschiedenheit der Meinungen verwirrt sind. Bei den Sinneswahrnehmungen sei dies nicht der Fall, woraus folge, dass man sie für zuverlässiger halte. „Denn unsere Sinne verdirbt kein Vater, keine Amme, kein Lehrer, kein Dichter und keine Bühne; die Einigkeit der Masse lenke sie nicht von der Wahrheit ab.“ ( Leg I, 53).

Hingegen werden die Seelen oft verwirrt: „Den Seelen werden alle nur denkbaren Fallen gestellt […]“( Leg I, 53).

Aber dies ist keine pessimistische Schlussfolgerung. Vielmehr ergibt sich die Aufforderung den Weg des Erkennens zu gehen. Erleichtert wird dies durch die Kräfte, die zur Selbsterkenntnis der Seele führen und damit zur Erkenntnis des Guten. Gerade die Abweichungen oder Umwege, die Fehlschlüsse oder Unwahrheiten können – im Sinne des Skeptizismus – als Motivation dienen, den Prozess des Erkennens immer wieder zu beginnen. Meinungen sind oft verfestigt, sie sind schwer durch Argumente anzusprechen oder zu widerlegen. Es gilt über sie hinauszukommen.

Im Ergebnis stellt nun Cicero fest: „(…) daß das Recht und alles sittlich Gute um ihrer selbst willen zu erstreben sind.“  (Leg I, 53). Diese Erkenntnis übersteigt den Rahmen einer subjektiven Meinung. Eine Meinung zu haben ist oftmals unbegründet und entspringt lediglich einem Gefühl. Eine philosophische Erkenntnis hingegen basiert notwendig auf beweisbaren und systematisch begründbaren Aussagen. Für Cicero kann diese Erkenntnis des Guten nicht in Frage gestellt werden, ohne damit die gesamte geistig-seelische Verfassung der Welt und des Menschen zu bestreiten.

Marcus Tullius Cicero De Legibus – Erstes Buch (Seite 51 bis 53)

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