Im nachfolgenden Abschnitt stellt Cicero die kultischen und zivilreligiösen Bestimmungen vor. Die gegenwärtige Bestimmung des Begriffes Religion erschwert uns aber zunächst das Verständnis für Ciceros Anliegen, so dass an dieser Stelle die Funktion der Religion in der römischen Verfassung zu bestimmen ist.

Die Religion, so könnte man sich heute dem Begriff nähern, fasst verschiedene Weltanschauungen zusammen, deren gemeinsame Grundlage die Annahme göttlichen Ursprungs des Kosmos ist sowie die Einflussnahme auf das natürliche Geschehen. Daraus werden normative Forderungen und Glaubenssätze abgeleitet, die sich zu einer rituellen und inhaltlichen Ordnung verdichten. Auch wenn prinzipiell polytheistische Entwürfe diesen Bedingungen entsprechen können, so sind doch die gegenwärtigen religiösen Weltanschauungen monotheistisch aufgebaut.

Cicero hingegen unterscheidet zunächst zwischen dem Begriff religio und superstitio. Während der erste Begriff von relegere ableitbar ist, also re-legere, wieder lesen, beachten, wird mit superstitio eine übertriebene Form der Zuwendung zum Göttlichen verstanden. Cicero, trotz seiner Prägung durch Platon, bleibt skeptisch den philosophischen Entwürfen gegenüber. Der Skeptizismus, das Infrage stellen vermeintlich sicherer Wahrheiten, ist eine methodische Versicherung gegen den Irrtum. Dies ist vor dem Hintergrund seines politischen Engagements verständlich. In der Welt der politischen Konflikte treten Auseinandersetzungen zu Tage, die eben kaum eindeutig zu klären sind. Jede politische Meinung ist von Interessen getragen. Um trotzdem einen, das Gemeinwohl ermöglichenden Zustand zu erreichen, geht es um ein gerechtes Abwägen verschiedener Positionen. Dazu bietet der Skeptizismus ein beachtliches methodisches Mittel. Der politische Skeptizismus wendet sich nicht gegen das Neue, möchte aber auch die bewährte Überlieferung in ihrer stabilisierenden Funktion beachten. Diese Funktion erfüllt der Begriff der religio. Die römische religio bezieht sich auf die kultischen Aspekte zur Legitimation der politischen Verfassung.

Da Rom zur Zeit Cicero bereits weit über die Halbinsel Italiens hinausreichte, Teile Spaniens, Nordafrikas, Griechenlands sowie Mitteleuropas umfasste, stellte sich die Frage nach einer gemeinsamen Grundlage dieser Herrschaft. Es zeigte sich besonders bei der Entwicklung des ausdifferenzierten Bündnissystems in Italien, dass Rom mit den vormalig unabhängigen Städten unterschiedliche Rechtsbeziehungen einging: Neben dem römischen Kerngebiet gab römische Kolonien sowie Bundesgenossen, die unterschiedlich am Gesamtstaat teilnahmen. Zur Strategie der politischen Integration der neuen Völker oder aus außenpolitischen Erwägungen wurden ausländische Götter integriert: „Götter wurden aus außenpolitischen Gründen nach Rom geholt, so etwa die Mater Magna 205/4 v. Chr aus dem pergamenischen Reich (…)“ (Vgl. Rosenberger 2012, 42).

Götter und deren Integration dienten als der machtpolitischen Stabilisierung. Die neuen Gebietskörperschaften, hier spielt die Überlegung der Bedeutung der Traditionen eine  Rolle, sollten integriert, aber nicht missioniert werden. Dies war vor dem Hintergrund einer polytheistischen Weltsicht weder geboten noch durchführbar. Dem politischen Gemeinwohl kam die Priorität zu. Dies kann an der Übernahme der griechischen Gottheiten nachgewiesen werden, die lediglich latinisiert, aber nicht wesentlich verändert wurden. Dieser kulturelle Ansatz ist beachtlich und muss auch in seiner herrschaftsstabilisierenden Wirkung anerkannt werden: Anstatt den eroberten Völkern die eigenen Kulte aufzuzwingen, wurden die neuen Götter latinisiert.  Der erste Tempel der Venus beispielsweise datiert in Rom auf das Jahr 295 v. Chr. Venus, in der griechischen Version Aphrodite, ist die Göttin der Schönheit und Liebe. Mit der Eroberung des Heiligtums der Venus Erycina in Westsizilien wurde dieser Kult auch nach Rom gebracht.

Damit wurde gleichsam die religiöse Toleranz aus staatspolitischen Erwägungen eingeführt. Es gab, für das antike Denken bezeichnend, keinen monotheistischen Entwurf, dessen Inhalt andere Anschauungen ausschloss, sondern die Erfordernisse einer Herrschaftssicherung verlangten eine systemische Offenheit. Dadurch erwies sich die Verfassung der römischen Republik als offen für die Integration verschiedener Völker und ihrer Kulte. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ausführungen Ciceros zu verstehen.

Marcus Tullius Cicero De Legibus – Zweites Buch – 5. Religio in der römischen Verfassung

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