Bevor die Kompetenzen der Magistrate aufgezählt und erläutert werden, blickt Cicero auf die bisherigen Formen der Herrschaft vergangener Staaten. Er zieht dabei Resümee aus den Erfahrungen aller Völker, die in ihrer Frühzeit sämtlich einem König gehorcht hätten. Dieser Gedanken, dass auch Völker eine Frühzeit haben würden, impliziert die Annahme eines inneren Lebens der Völker, die von einem Aufstieg zu einer Blühte und einem Niedergang führen könne. Mit dieser in Phasen gegliederten Beschreibung ist daher eine bestimmte Charakterisierung jeder Stufe verbunden. Dies führt Cicero an dieser Stelle zu der Einsicht, dass Völker in ihrer Frühzeit dazu neigen können, sich der Herrschaft eines Königs zu unterwerfen. Dieser analytische Ansatz verweist deutlich auf den Einfluss Platons und Polybios‘, die diese Lehre des Kreislaufes der Verfassungen aufgestellt haben. Er verknüpft die lineare Entwicklung der Epoche eines Volkes mit dem zirkulären Wechsel der inneren Verfassungen.

In der Frühzeit eines Volkes würde – so Cicero – die Führung und Herrschaft den „gerechteten und weisesten Männern übertragen.“ (Vgl Leg III, 151). Damit sei auch die dynastische Weitergabe der Macht verbunden. Eine genauere Diskussion des Umfanges und der Voraussetzungen der Herrschaft eines Königs wurde bereits im Buch De re publica geleistet, so dass Cicero diese Ausführungen hier als bekannt voraussetzen kann. Die Herrschaft eines Königs ist aber durch die tatsächliche Geschichte Roms unabänderlich diskreditiert, gleichwohl sind – wie Polybios ausführte – in der Mischverfassung der Republik mit dem Amt des Konsuls auch monarchische Elemente vorhanden. Mit dem kollegial besetzten Amt des Konsuls war – für die Dauer eines Jahres – die uneingeschränkte militärische und zivile Herrschaft verbunden. Die ursprünglich regierenden gerechten und weisen Männer erinnern an die platonische Konzeption der Philosophenkönige. Fraglich ist jedoch, ob Platon diese Ansicht als tragfähig verstand oder ob nicht diese Idee als konzeptioneller Gegenentwurf zu einer tatsächlichen Welt verstanden wurde, um diese im Sinne fortschreitender Reformen behutsam zu verbessern.

Für Cicero ist jedenfalls die Zustimmungsfähigkeit einer Herrschaft durch das Volk die Legitimation der politischen Struktur des Gemeinwesens: „Diejenigen aber, denen die Macht eines Königs nicht zusagte, wollten nicht etwas niemandem, sondern nur nicht immer einem einzigen gehorchen.“ (Leg III, 151). Eine politische Forderung ist analytisch nicht so tiefgehend wie eine philosophische Reflexion. Dies vorausgeschickt, wird ersichtlich, dass mit der Ablehnung einer als ungerecht empfundenen Herrschaft eines Einzelnen nicht jede Herrschaft insgesamt infrage gestellt wird. Vielmehr werden „freie Völker“ diejenigen Gesetze bekommen, die der besten Verfassung entsprechen. Daraus folgt, dass nicht alle Verfassungen in ihrer Substanz gleichwertig sind. Unterscheidungskriterium kann nur der Grad ihrer immanenten Freiheit sein. Das Volk – als Gesamtheit der vernünftigen und mit gleichen Rechten ausgestatteten freien Bürger – würde nur derjenigen Verfassung seine Zustimmung geben, die die grundlegenden Rechte sichere. Über ein aufgeklärtes Volk könne folglich nicht einer alleine herrschen.

Wenn Herrschaft notwendig ist – und für Cicero verbürgt die Struktur der Natur und des Kosmos‘ diese Forderung – dann muss sie aber gerecht in dem Sinne sein, als sie dem Menschen als Vernunftwesen in seinem Bestreben entspricht, das Gute zu wollen und das Rechte zu tun. Die Gesetze müssen der besten Verfassung angepasst werden. Diese Einsicht ist gleichfalls von einer zeitlosen Gültigkeit. Auch der Verfassungsstaat der Moderne konstruiert eine Hierarchie der Normen, in der die positiven Gesetze selbst wieder vorstaatlichen, moralischen Ansprüchen genügen müssen, um als Gesetz überhaupt zu gelten. Dieser diskursive Raum, in dem staatspolitisches Denken der Römischen Republik mit dem Verfassungsrecht der Moderne sich begegnen, beweist die andauernde Relevanz dieses rechtsstaatlichen Ansatzes.

Es folgt nun konkret, dass die Magistrate zum einen notwendig sind. Sie ergänzen mit ihre „Klugheit und Sorgfalt“ eine Bürgerschaft. Auf ihrer „Aufgabenverteilung“ beruht die Verwaltung des Staates. Hier deutet sich tatsächlich schon die neuzeitliche Gewaltenteilung des Staates an. Cicero ist der erste Staatsphilosoph der einen systematischen Ansatz in seiner Analyse benutzt. Die Magistrate bilden die Aufgabenverteilung des Staates ab, damit ist eindeutig das Prinzip einer auf verschiedenen Kompetenzen gründenden Gewaltenteilung und wechselseitigen Kontrolle postuliert.  Diese Gewaltenteilung ist jedoch nicht statisch in dem Sinne einer ewig festgeschriebenen Ordnung zu verstehen. Zum anderen benötigen die Magistrate einen Maßstab für das Befehlen und die Bürger einen Maßstab für das Gehorchen, aber andererseits steht dieses Verhältnis unter dem Vorbehalt einer nur zeitweiligen Gültigkeit. Das gute Befehlen verweist auf das gute Gehorchen und das gute Gehorchen ermöglicht ein späteres guten Befehlen. Denn – dies ist die staatspolitische Konsequenz – die Position des Bürgers kann sich in der republikanischen Verfassung ändern. Aus der Selbstregierung des Volkes resultiert die Möglichkeit, dass jeder Bürger selbst Magistrat wird.

Damit sind die Herrschaft und das Befehlen eingebunden in das innere Leben der Bürgerschaft. „Daher ist es notwendig, daß jeder, der gehorcht, erwarten kann, zu irgendeinem Zeitpunkt zu herrschen, und jeder, der herrscht, daran denkt, in Kürze gehorchen zu müssen.“ (Leg III, 151). Mit dieser immanenten Machtkontrolle wird die Ausübung der Herrschaft dem Wechselspiel einer lebendigen Gesellschaft ausgesetzt und eine Alleinherrschaft – trotz der verfassungsrechtlichen Ausnahmen – systematisch ausgeschlossen. Die Erfahrungen von Monarchie und Tyrannis waren in ihren freiheitsnegierenden Auswirkungen bekannt. Im Folgenden werden die Magistrate in ihrem Umfang und den Kompetenzen ausgeführt.

Marcus Tullius Cicero De Legibus – Drittes Buch – 2. Über die republikanische Herrschaft

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