Die als Diskussion des Zivilrechtes begonnene Darstellung erfuhr im letzten Abschnitt eine Erweiterung zur Rechtsphilosophie: Es wurde auf die Vernunft als das Menschen und Götter verbindende Element verwiesen, aus dem heraus erst die Gesetze und das Recht zu verstehen sind. Dieser philosophische Standpunkt erfährt nun eine wesentliche Vertiefung durch die Erläuterung der Entstehung des Menschen aus seinem göttlichen Ursprung.
Cicero führt aus: „Im Zuge der unablässigen Bewegungen und Umläufe der Himmelskörper sei irgendwann die Zeit für die Erschaffung des Menschengeschlechts gekommen, das dann in alle Welt verstreut und, nachdem es ausgesät war, mit dem göttlichen Geschenk der Seelen beglückt worden sei, und während alles andere, woraus die Menschen beständen, vergänglich, das heißt zerbrechlich und hinfällig sei, sei ihnen eine Seele von Gott eingepflanzt worden.“ (Leg I, 29).
Es werden daher zwei differente Bereiche des Seins beschrieben: In der Sphäre der Natur finden ewig, unablässige Bewegungen der materiellen Körper statt. Dieser Ablauf erfährt dann eine substantielle Erweiterung als die Zeit für die körperliche Erschaffung des Menschen gekommen sei. Ganz im Sinne des kosmopolitischen Stoizismus wird die Menschheit als eine das ganze Menschengeschlecht übergreifende Gemeinschaft betrachtet. Die Menschen treten als natürliche Lebewesen auf, werden aber ebenfalls als beseelt beschrieben. Aus der materiellen Grundlage des natürlichen Lebens – das ist die Einsicht von Cicero – kann sich die Seele als einzigartiges, neuartiges und umfassendes Merkmal des Menschen jedoch nicht erklären. Auch wenn mit dem Epikur und Demokrit zugeschriebenen Materialismus bereits in der Antike ein entsprechendes Weltbild vorhanden war, ist es offenkundig, dass die in der Seele angelegte Unendlichkeit des Denkens, die Leidenschaft des Fühlens und die Kraft des Willens nicht aufgrund einer materiellen Grundlage hinreichend zu erklären sind. Mit der Seele erreicht der Mensch eine Vollkommenheit, die das Streben nach Erkenntnis mit dem Staunen über die Welt und dem Sehnen nach dem Guten versöhnt. Dies ist die eigentliche Bestimmung des Menschen.
Die Seele ist die immanente Verbindung des Menschen mit den Göttern. In der tatsächlichen Erfahrung ergibt es sich, dass in jeder Zivilisation und in vielen individuellen Menschen die Suche nach dem Göttlichen angelegt ist. Damit ist aber nun – um Cicero gerecht zu werden – nicht notwendigerweise eine monotheistische Weltsicht oder eine Religion des Gefühls postuliert. Mit der Annahme einer rationalen Seele übersteigt die antike Philosophie die Beschränkung auf Gefühle. Vielmehr geht es Cicero um Wissen über die Seele. Die Gewissheit einer nur auf äußerlicher Sinnlichkeit gründenden Aussage wird sicher nicht erreicht, vielmehr wird an den spekulative Innenblick des Menschen appelliert. Die Seele erkennt, was das Auge nicht sehen kann: sich selbst.
Für Cicero ist die Tatsache der Existenz einer menschlichen Seele so evident und ist die Unabhängigkeit der Seele vom Körper so unbestreitbar, dass – weil eine dritte Position nicht denkbar ist – die Seele eine neue Qualität besitzt, die außerhalb der materiellen Welt angelegt ist: In der Sphäre des Göttlichen. So kann Cicero schreiben: „Deshalb gibt es unter so vielen Arten kein Lebewesen außer dem Menschen, das irgendeine Kenntnis von Gott hat, und unter den Menschen gibt es kein noch so gesittetes und noch so wilder Volk, das auch dann, wenn es keine Ahnung davon hätte, welchen Gott man haben sollte, nicht trotzdem wüßte, dass man einen Gott haben muß.“ (Leg I, 29f).
Gott zu erkennen, bedeutet dann, den Ursprung des Menschen zu schauen. Neben Seele und Vernunft verfüge der Mensch aber gleichfalls über die Sinne, die als Vermittler und Grundlagen des Wissens dienen. Der Mensch steht daher zwischen den Welten: Während sich die Götter oder die göttliche Kraft durch ihre Wirkungen in der natürlichen Welt bemerkbar machen, hat der Mensch durch seine doppelte Existenz eine einzigartige Stellung, in der das Göttliche der Seele vermittels der Sinne auf das Äußere der Natur trifft:
„Den Menschen selbst aber stattet dieselbe Natur nicht nur mit der Gewandtheit des Geistes aus, sondern sie gab ihm auch die Sinne sozusagen als Begleiter und Boten und überließ ihm von den meisten Dingen dunkle und noch nicht hinreichend klare Vorstellungen, die gewissermaßen als Grundlagen und Voraussetzungen seines Wissens dienen und verlieh ihm eine praktische und dem menschlichen Geist entsprechende körperliche Gestalt.“ (Leg I, 31).
Der Mensch wird zur Betrachtung des Himmels angeregt, seiner eigentlichen Wohnung. Dieser Gesichtspunkt ist für jeden Beobachter des nächtlichen Himmels so offenkundig und reizvoll, dass dieser Gedanke ein in der Philosophie oft zitierter Punkt ist. Auch Kant spricht von der Ehrfurcht für den bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.“ ( Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, 1788. Kapitel 34. Beschluss).
Cicero erweist sich als ein tiefgründiger Beobachter der menschlichen Seele, der seine Eindrücke in angemessener Form wiederzugeben vermag: „(…) und das, was man Gesichtszüge nennt, der bei keinem anderen Lebewesen außer dem Menschen vorhanden sein kann, verrät die Charakterzüge.“ (Leg I, 33).
Gott habe den Menschen in dieser Art geschaffen, weil er wollte, dass der Mensch für alle übrigen Dinge verantwortlich sei. Die Natur habe dann – einmal so angelegt – die Vernunft des Menschen gestärkt und zur Vollendung gebracht.
Der anschließende Kommentar von Atticus verdeckt nicht die Bewunderung für den Umfang und die Tiefe, für die argumentative Geschlossenheit und metaphysische Grundlegung der Begriffe Recht und Gesetz: „Bei den unsterblichen Göttern, wie weit holst du aus, um die Grundlagen des Rechts zu beschreiben, aber doch so, daß ich nicht nur auf die Ausführungen über das Zivilrecht, die ich mir von dir erhoffte, warten kann, sondern daß ich es auch sehr begrüße, wenn du den heutigen Tag sogar ganz für diese Erörterungen verwendest.“ (Leg I, 33).
Cicero geht zunächst vom konkreten Gegebenheiten aus, dem Zivilrecht, betrachtet die systematischen Annahmen und benennt die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien. Das Zivilrecht reguliert Verhaltensweisen, dies setzt voraus, dass die Adressaten vernünftige Lebewesen sind, deren Einsichten mit den Anordnungen des Gesetzes übereinstimmen könnten. Die Vernunft ist ein – die körperliche Seite des Menschen überschreitend – Aspekt, der sich nicht aus der äußeren Natur ableiten lässt, sondern auf die göttliche Sphäre verweist. Mit der Seele als dem wesentlichen Merkmal des Menschen erhält dieser eine besondere Stellung in der Schöpfungsordnung.
