Der Dialog von Atticus, Quintus und Cicero wird fortgesetzt. Ihr Thema ist das Zivilrecht. Unter dem Zivilrecht wird das Recht verstanden, das den Umgang der Bürger untereinander regelt. Es stehen zunächst im Mittelpunkt die bedeutenden Männer der Bürgerschaft, die die Auslegung des Rechts durchführten. Deren Diskussionen des Zivilrechtes waren am konkreten Einzelfall ausgerichtete Beschäftigungen mit dem geltenden Recht. Nicht eine systematische Ordnung des Rechts wurde dabei angestrebt, sondern die an der Auslegung eines Sachverhaltes sich ergebende pragmatische Klärung des Einzelfalls. Damit verbunden räumt Marcus Tullius Cicero ein, dass diejenigen Männer sich zwar des Rechtes nicht als unkundig erwiesen, dies jedoch nur in einer populären Art durchführten. Sie kamen daher nicht zu einer „theoretischen Durchdringung“ (vgl. Leg.I, 19) des Rechts. Zwar habe diese kasuistische Perspektive ihre Berechtigung, aber für Cicero ist es an dieser Stelle undeutlich, ob damit das Erkenntnisinteresse von Atticus und Quintus erfüllt sei.

Hier deutet sich bereits eine Feingliederung des Rechts in partikulare Rechtsgebiete mit der Frage von Cicero an: „Wozu rufst du mich auf oder ermunterst du mich? Daß ich Aufsätze schreibe über das Dachrinnen-und Hauswände-Recht?“ (vgl. Leg.I, 19).

Für Cicero sind einerseits diese Themen von vielen anderen bereits bearbeitet worden, andererseits erscheinen sie ihm weniger bedeutsam als die Ausführungen, die seine Freunde von ihm erwarten. Damit sind Rechtskunde und Rechtsphilosophie kategorial voneinander getrennt. Während die Rechtskunde sich auf den Einzelfall des Lebens einlässt und es sich eine prinzipiell unendliche Anzahl verschiedener Konstellationen denken lässt, beabsichtigt die Rechtsphilosophie einen anderen Ansatz: Sie intendiert eine grundsätzliche Klärung.

Auf diesen Gedanken antwortend, erinnert Atticus an die staatsphilosophische Schrift von Cicero über die beste Verfassung des Staates, de re publica. Im Anschluss sollte eine Darstellung der Gesetze folgen. Diese Abfolge sei bereits bei Platon angelegt worden, dessen Schrift Politea – Der Staat – von der Schrift Nomoi – Die Gesetze – ergänzt wurde. Inhaltlich und systematisch kann argumentiert werden, dass nach der Bestimmung der besten Verfassung der Begriff und die Ausführung von Gesetzen im Sinne einer sukzessiven Konkretisierung bestimmt werden muss. Die Schrift von Cicero über den Staat ist nur fragmentarisch erhalten, aber in den bekannten Stellen repräsentiert sie die klassisch antike Diskussion der Verfassungsformenlehre, die Platon und Polybios folgend in der Mischverfassung die beste Verfassung erkannte.

Cicero unterstützt die Ansicht und stellt die Frage zur Diskussion, ob nun über die Einrichtungen und die besten Gesetze diskutiert werden sollte. Er ergänzt dies durch die Erweiterung: „etwas gründlicher und ausführlicher reden, als es die gerichtliche Praxis erfordert.“ (Leg.I, 21).  Daher wird der von pragmatischen Gesichtspunkten begrenzte Rahmen zugunsten einer prinzipiellen Diskussion überschritten. An dieser Stelle werden rechtsphilosophische Gedanken maßgeblich. Atticus und Quintus bestätigen diese Vorgehensweise. (Leg.I, 21).

Den damit verbundenen Bruch in der Gedankenführung unterstreicht Cicero auch mit der Eröffnung seiner Argumente durch den Bezug auf die einzigartige Stellung des menschlichen Geistes: „Völlig zu Recht; denn ihr müßt euch dessen bewußt sein, daß bei der Erörterung keines anderen Themas besser deutlich wird, worüber der Mensch von Natur aus verfügt, welchen Reichtum an hervorragenden Möglichkeiten der menschliche Geist besitzt, für welche Aufgaben und Pflichten wir Menschen geschaffen und in die Welt gesetzt wurden und was die Verbindung der Menschen und die natürliche Gemeinschaft unter ihnen bedeutet.“ (Leg.I, 21).

Bereits mit dieser Vorankündigung wird der Umfang der Argumente umrissen: Die Menschen wurden von der Natur mit einem bestimmten Besitz ausgestattet, dies betont die natürlichen Rechte des Menschen. Neben die Natur tritt aber gleichfalls der Mensch selbst, dessen Geist ihn für hervorragende Möglichkeiten befähigt. Natur und Geist – diese Konstellation begründet daher die besondere Stellung des Menschen.

Aus ihr resultiert die natürliche Gemeinschaft: Da natürliche Rechte und Vernunft das allen Menschen zukommende Merkmal ist, bilden alle Menschen eine natürliche Rechtsgemeinschaft. Erst die Klärung dieser Gesichtspunkte und den sich ergebenden Konsequenzen kann den Ursprung der Gesetze und des Rechts beleuchten. Damit ist die Ebene der historisch konkreten Gesetze zugunsten einer prinzipiellen Diskussion verlassen. Atticus fasst diese Gedanken wie folgt zusammen: „Du meinst also, daß die Kenntnis des Rechts nicht aus dem Edikt des Prätors, wie die meisten es heute tun, und nicht aus den zwölf Tafeln, sondern tief aus dem Inneren der Philosophie zu schöpfen sei?“ (Leg.I, 21). In der römischen Magistratsordnung war das Amt des Prätors des einen Vorsitzenden eines Gerichtshofes. Die Zwölf-Tafel-Gesetze wiederum waren der Versuch im Jahre 450 v. Chr, das bislang übliche Gewohnheitsrecht zu verschriftlichen.

Dies bestätigt nun Cicero: „In unseren Erörterungen müssen wir den Gegenstand des Rechts im allgemeinen und der Gesetze in ihrer Gesamtheit so zusammenfassen, daß das Zivilrecht, wie wir es nennen, auf einen kleinen, eng begrenzten Bereich beschränkt wird: Wir müssen nämlich das Wesen des Rechts klären und dieses aus dem Wesen des Menschen herleiten(…)“ (Leg.I, 23). Die Rechtskunde, interessiert einen konkreten Einzelfall zu lösen, greift auf das positiv bestehende Recht in einem Gemeinwesen zurück und kommt durch den Vergleich von Einzelfall und Rechtsnorm zu einem begründeten Urteil. Davon getrennt ist jedoch die Frage nach dem Wesen des Rechts überhaupt oder seiner Idee. Damit involviert ist auch die Grundlage des Rechts. Eine Begründung des Rechts muss notwendigerweise über das Rechts selbst hinausgehen.

Cicero greift nun die Argumentation auf, dass das Gesetz in einer gewissen Übereinstimmung mit der höchsten Vernunft, die in der menschlichen Natur liegt, stehen muss. Er beginnt mit dem Gesetzesbegriff. Indem das Gesetz mit der Vernunft der Menschen verbunden wird, erscheint die Anordnung des Gesetzes als nichts dem Menschen fremdes: „Dieselbe Vernunft ist das Gesetz, wenn sie im Geist des Menschen ihren festen Platz hat.“ (Leg.I, 23). Aus dieser inhaltlichen Nähe folgt später auch die Erkenntnis, dass vernunftwidrige Regeln keine Gesetze wären.

Für die weitere Bestimmung des Rechtsbegriffes greift Cicero auf ein besonderes Gesetz zurück, dessen Bedeutung er wie folgt bestimmt: „Für die Grundlegung des Rechts wollen wir jedoch jenes höchstes Gesetz zum Ausgangspunkt erklären, das vor ewiger Zeit entstand, noch bevor irgendein Gesetz aufgeschrieben oder überhaupt ein Staat gegründet wurde.“ (Leg.I, 25).

Es stellen sich zwei kategorial getrennte Bereiche dar: Zum einen Staaten, die zu einer bestimmten Zeit gegründet, und Gesetze, die zu einer bestimmten Zeit auf geschrieben wurden. Zum anderen ein höchstes Gesetz, das außerhalb jeder Zeit entstand und sich als ewig gültig erweist. Diese von Ewigkeit gekennzeichnete Gültigkeit betont die besondere Qualität einer Idee, aus der heraus das Recht begründet wurde.

Dies sei – so Cicero – die Quelle, aus der heraus das Recht in seiner Entstehung zu verfolgen sei. Daher führt Cicero aus: „Stimmst Du überein (…), daß die ganze Natur gelenkt wird durch die Wirksamkeit der unsterblichen Götter, durch ihr Wesen, ihre Vernunft, ihre Macht, ihren Geist, ihr Walten oder durch sonst etwas, falls es noch kein anderes Wort gibt, mit dem ich noch deutlicher machen kann, was ich sagen will?“ (Leg.I, 27). Alle menschlichen Attribute, die ihn aus der Natur herausragen lassen, beziehen ihren Ursprung aus einer übersinnlichen Ebene, die – dem Geist der Antike geschuldet – mit Göttern verbunden umschrieben ist. Hinter dieser, der Anschauung dienenden Umschreibung steht jedoch die rationale Einsicht, dass es von der äußeren Natur grundlegend getrennte Ursachen gibt, die sich im Menschen besonders einprägen. Der Mensch partizipiert in einer noch zu bestimmenden Weise an der übersinnlichen Sphäre, seine Vernunft ist Teil einer größeren Vernunft. Damit rekurriert Cicero wiederum auf platonische Ideen. Er räumt gleichzeitig jedoch auch ein, dass es auch Menschen gäbe, die die Wirkungslosigkeit der Götter behaupten.

Als auch philosophisch zentrale Aussage ist nun folgende Erläuterung von Cicero zu verstehen, aus der heraus das gesamte rechtsphilosophische System der Freiheit des Menschen abzuleiten ist: „Denn es geht darum, daß dieses vorausschauende, verständige, vielseitige, scharfsinnige, erinnungsfähige, von planender Vernunft erfüllte Lebewesen, das wir „Mensch“ nennen, mit vorzüglichen Eigenschaften vom höchsten Gott geschaffen wurde.“ (Leg.I, 27).

Dieser Ansatz, den Menschen in dem Reichtum seiner geistig-seelischen Möglichkeiten darzustellen, ist bemerkenswert, stellt er nämlich die positive Substanz des Menschseins aus seiner göttlichen Abkunft hervor. Mit seinem vernünftigen Blick schaut der Mensch in sich selbst, auf den Anderen, in die Vergangenheit und die Zukunft. Dabei ist entscheidend die genetische Bestimmung: Der Mensch hat die ihm zugeschriebenen Eigenschaften als ein von einem höchsten Gott erschaffenes Geschöpf.

Diese Beschreibung wird weiter ausgeführt: „Denn als einziges Wesen unter so vielen Arten und Geschöpfen der belebten Natur hat er teil an der Vernunft und dem Denken, während alle übrigen Wesen davon ausgeschlossen sind.“  Die Behauptung einer einzigartigen Stellung des Menschen wird hier unter Bezug auf seine Vernunft gerechtfertigt. Damit ist sicher keine Zurückstellung anderer Geschöpfe intendiert, gleichwohl darf sich der Mensch seiner besonderen Rolle in der Welt rühmen.

Das Lob Cicero auf die Vernunft verdeutlicht seine idealistische Weltsicht. Nicht die Kategorien der Stärke oder der Macht sind die für den Menschen grundlegenden, sondern die der Vernunft: „Was aber ist, um nicht zu sagen im Menschen, sondern im Kosmos und auf der Erde, göttlicher als die Vernunft?“ (Leg.I, 27). Der damit zum Ausdruck gebrachte Optimismus wurde in Folge einer realistischen Geschichtsschreibung, die das Böse des Menschen und seiner Taten zur Kenntnis nehmen musste, in Frage gestellt. Aber mit der Feststellung der tatsächlichen Boshaftigkeit der Menschen konnte prinzipiell nicht die Vernunft des Menschen als Idee widerlegt werden. Daher kann die Annahme Ciceros trotzdem als Argument aufgegriffen werden.

Diese Vernunft nämlich existiert nicht im Menschen von der übersinnlichen Ebene isoliert: „Es ist also, da es ja nichts Besseres als die Vernunft gibt und diese im Menschen wie auch in Gott ist, die erste Gemeinsamkeit des Menschen mit Gott die gemeinsame Vernunft.“ (Leg.I, 29). Erst die Gemeinsamkeit der Vernunft mit den Göttern versichert die Wirklichkeit der Vernunft des Menschen. Nicht als isoliertes Lebewesen – in der Reihe einer Entwicklung – ergreift der Mensch die Vernunft, sie ist vielmehr das Bindeglied zur Sphäre des Göttlichen. Religiöse Ansätze mögen dafür das Gefühl benennen, für Cicero als Rationalist ist es allein die Vernunft, die den Menschen das Göttliche begegnen lässt.

Damit ergibt sich entsprechend auch eine partielle Rechtsgemeinschaft zwischen Menschen und Göttern: „Diejenigen aber, denen diese Dinge gemeinsam sind, müssen auch als Bürger desselben Staates gelten.“ (Leg.I, 29). Danach gehorchen die Menschen dem göttlichen Geist, wenn sie die Vernunft benutzen, die Menschen und Götter verbinden. Menschen und Götter sind – so Cicero – verwandtschaftlich verbunden.

Cicero bestimmt in diesem Abschnitt die Begriffe des Gesetzes und des Rechts. Dabei erweist sich die Vernunft als diejenige Eigenschaft des Menschen, aus der heraus die Begriffe des Gesetzes und des Rechts begründet werden können. In der sich anschließenden Entwicklung seines Menschenbildes zeigt Cicero auf, dass der Mensch durch die Vernunft mit den Göttern verbunden ist. Damit betont Cicero platonische Ideen, die die Vernunft als eine grundlegende Voraussetzung des Menschen postulieren.

Marcus Tullius Cicero De Legibus – Erstes Buch (Seite 19 bis 29)

Beitragsnavigation


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert