Cicero beschränkt die Gemeinsamkeit der Menschheit nun nicht auf den Besitz der Vernunft alleine, vielmehr benennt er verschiedene Verhaltensweisen und Reaktionen, die die Menschen teilen. Darunter fallen auch das Fehlverhalten und ihre Beurteilung. Besonders evident ist jedoch die Sehnsucht nach dem guten Handeln: „Aber welches Volk liebt nicht Nachgiebigkeit, Güte, Liebenswürdigkeit und Dankbarkeit?“ (Leg I, 37).

Diese Position ist geprägt von der Annahme einer kosmischen polis, einer weltweiten Gemeinschaft. Es ist diese charakteristische Annahme des Stoizismus, die sich dann im konkreten politischen Leben als der Grund des gemeinsamen Handelns erweist. Die rechtspolitische Konsequenz ergibt sich entsprechend: „Daraus folgt also, daß wir Menschen von Natur aus bestimmt sind, das Recht miteinander zu teilen und allen anderen zu gewähren.“ (Leg I, 37).

Die Menschen begegnen sich in der gemeinsamen Anerkennung als mit grundsätzlich von Natur aus gleichen Rechten. Die natürliche Fundierung sichert die Rechte gegen jede staatliche Abschaffung oder unzulässige Relativierung. Mit der Annahme der natürlichen Rechte ist vielmehr der Staat gebunden, dieses Recht der Menschen zu wahren. Es ergibt sich eine Umkehr in dem Verhältnis Herrschaft und Recht: Rechte resultieren nicht aus einer Zuweisung aus der ursprünglichen Herrschaft, sondern Herrschaft bezieht ihre Legitimität aus der Sicherung der ursprünglichen Rechte. Damit ist ein Abgrenzungskriterium zwischen guter und schlechter Herrschaft formuliert.

Denn andererseits muss auch Cicero die Existenz der schlechten Gewohnheiten einräumen. (Leg I, 39).  Diese Neigung steht im Spannungsverhältnis zu der allen Menschen gegebenen Vernunft.  Das Gesetz wiederum sei die richtige Vernunft auf dem Gebiet des Befehlens und Verbietens. Gesetze treten denknotwendig nur da auf, wo unrechtes Handeln möglich ist.

Wenn nun aber die Vernunft des Menschen innerlich so überzeugend wirkt, dass sich ein unrechtes Tun nicht einstellen könnte, müssten keine äußeren Gesetze das Handeln des Menschen leiten. Aus dem Begriff der Vernunft heraus entwickelt Cicero nun einen unwiderstehlichen Gedanken: Wenn ein Weiser, also eine Person, die sich in ihrem Handeln vollkommen auf die Vernunft bezieht, einem anderen Menschen Wohlwollen entgegenbringt, dann verändert sich damit die Beziehung dieser Personen grundlegend: Es geht nicht mehr um einen Austausch von Leistung und Gegenleistung oder von Belohnung, sondern der Andere wird in der Tiefe und in dem Umfang genauso anerkannt wie er sich selbst anerkennt. Damit ist die Freundschaft im Sinne eines Wohlwollens der Vernunft gemeint. Freundschaft unterliegt der Bedingung, dass man nichts für sich lieber will als für den anderen. (Vgl. Leg I, 41). 

Cicero führt aus: „ Wenn ein Weiser wirklich dieses so weithin wirkende Wohlwollen jemandem entgegenbringt, der über die gleiche Tugend verfügt, dann entsteht das, was manchen Leuten unglaublich erscheint, aber unausweichlich ist, daß er sich selbst nämlich keinesfalls mehr liebt als den anderen.“ (Leg I, 41).

Freundschaft liegt also im Begriff der Vernunft als Ideal schon angelegt, sie bedeutet ein Zurücknehmen der eigenen Person und ein Einlassen auf den Anderen, der dadurch jedoch nicht ein äußerer Anderer bleibt. Dem Freund begegnet man dann auf einer besonderen Ebene, in der Seele nahe. Damit ist eine zweite, geistige Ebene des Umgangs der Menschen erschlossen:

In der allgemeinen Rechtsgleichheit begegnen wir jedem Menschen – unabhängig der persönlichen Sympathie – als gleichberechtigten Bürger.

In der persönlichen Begegnung, die eben die allgemeine gesellschaftliche Ebene überschreitet, eröffnet das Gebot der Vernunft – Achtung und Anerkennung der Anderen – eine besondere Beziehung. Für Cicero war dies die Freundschaft mit seinem lebenslangen Freund Atticus.

Die Vernunft des Menschen überschreitet damit ihre Funktion als Rechtsgrund. Sie ist umfassender, machtvoller und einflussreicher als bei der ausschließlichen Betrachtung des Rechts. Diese Grundlegung des Rechts in der Natur, verbunden mit einer Betonung der Vernunft, führte zu einer Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, das von gleichen Rechten ausgezeichnet ist. Dieser Ansatz ist – nach den Erfahrungen von staatlichem Unrecht – geeignet, die Idee des Rechts neu zu bestimmen und nicht das Recht als Instrument reiner Macht per se zu delegitimieren.

Die Gebote der Vernunft wiederum ermöglichen aber auch die Bildung der Freundschaft der Seelen. Damit unterwerfen sich die Seelen jedoch nicht einem fremden Gesetz, denn die Vernunft ist ein freier Teil der Seelen selbst. Neben der Erkenntnis der Seele wird gleichfalls auch die Vernunft als Teil der Seele hervorgehoben. Vernunft darf nicht mit dem Verstand gleichgesetzt werden, der sich eher auf praktische Überlegungen bezieht. Die Vernunft äußert sich im kritischen, distanzierten Betrachten, auch der eigenen Person, aber dann auch im Bejahen des Guten und im Streben nach Erkenntnis, sie entlässt den Menschen aus der unmittelbar natürlichen Welt und weist auf das geistig-seelische. Sie ist unwiderstehlich, auch wenn sie unsichtbar bleibt.

Cicero blieb dem platonischen Denken treu, er fügte sogar dieser Tradition keine wesentlich neuen Erkenntnisse hinzu, aber erinnerte an das Bleibende. Eine Idee, geboren in der Welt der Griechen, verlässt ihr Umfeld und führt die politische Kultur der Römer zur Blühte.

Marcus Tullius Cicero De Legibus – Erstes Buch (Seite 37 bis 41)

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