Die Grundannahme des philosophischen Naturrechts bei Cicero ist platonisch inspiriert, das heißt sie greift auf Ideen zurück, die selbst voraussetzungslos und ewig gültig sind. Damit ist zum einen ein wesentliches Problem gelöst – der argumentative Ausgang. Für die platonische Ideenlehre ist die Idee des Guten eine in sich selbst schlüssige Annahme, die eben auf keine weitere Verweisung angewiesen ist. Damit ist auch das Problem eines Anfangs in der Philosophie gelöst. Diese Problem, womit in der Philosophie zu beginnen sei, tritt historisch auch erst später auf, beispielsweise mit Rene Descartes und dem subjektiven Rationalismus, bei dem aus dem Ich als res cogitans scheinbar erst alle weiteren Erscheinungen der Welt als res extensa folgen.
Diese Ideenlehre gilt es zum anderen zu erkennen. Denn sie ist der Hintergrund für die Annahme, dass das Gute nicht nur als kritischer Maßstab zur Bewertung, sondern als die Substanz der Wirklichkeit anzusehen ist. Für Cicero folgt aus der Idee des Guten die Idee des Rechts. Das Recht hat als natürliche Gegebenheit nur dadurch eine unwiderstehliche Macht, weil es an der Idee des Guten partizipiert, gleichsam sie in der Welt der menschlichen Konflikte als anzustrebende Idee repräsentiert. Dadurch erhält die Idee des Rechts eine grundsätzlich nicht widerlegbare Stellung.
Aus der Idee des Rechts folgt dann ein entsprechend abgesicherter Bezugsrahmen zur Beurteilung, ob ein Sachverhalt der Idee des Rechts entspricht oder nicht. Diese so abgesicherte Entscheidung kann – für Cicero – nun nicht durch Entscheidungen oder Anordnungen revidiert werden, ohne dass es die Rechtmäßigkeit verliert. Als Akt der willkürlichen Gewalt können die natürlichen Gegebenheiten umgedreht werden, aber damit würden Gut und Böse ad absurdum geführt werden: „Oder wenn ein Gesetz aus Unrecht Recht machen könnte, warum könnte es dann nicht ebenso aus Bösen Gutes machen?“ ( Leg. I, 49). Cicero wendet sich nicht nur gegen tyrannische Herrschaftsformen, sondern auch gegen den moralischen Relativismus, der alle Substanzen in ihren Werten gleichmacht. Damit haben Mehrheitsentscheidung, die tatsächlich auch gegen Rechte sich wenden könnten, eine innere Begrenzung, die auch im GG zum Tragen kommt. Art 79 Abs. 3 schließt beispielsweise Änderungen aus, die die Grundsätze der Grundrechte berühren würden, aus. Diese verfassungsrechtliche Position ist nur vor dem rechtsphilosophischen Hintergrund des Naturrechts zu begründen.
Die entscheidende Frage wird von Cicero damit gestellt, dass er nach einem Maßstab verlangt. Doch dieser liegt tatsächlich mit der Natur vor: „Doch wir können ein gutes Gesetz von einem schlechten nur dann unterscheiden, wenn wir den Maßstab der Natur anlegen.“ ( Leg. I, 49). Der Maßstab der Natur ist die universale Rechtsgemeinschaft aller Menschen. Ein Gesetz, das zur Bevorzugung einer Person zulasten einer anderen Person ohne sachlichen Grund oder zur Verletzung natürlicher Rechte führen würde, wäre ungesetzliche Willkür, daher Unrecht.
Die Natur, als Ausgangspunkt, habe weiterhin allgemeine Vorstellungen hervorgebracht und diese Überlegungen so in den Seelen angelegt, dass das sittlich Gute in der Tugend und das Verwerfliche in dem Fehlverhalten verwirklicht wird. (Vgl. Leg I, 51). Jeder Mensch als Mensch ist mit einer Seele beschenkt und in dieser Seele liegt dieses moralische Wissen als Idee bereits verankert. Für die Bildung geht es dann darum, dieses Wissen, das an sich in uns ist, wieder in die Erinnerung zu rufen. Durch die Struktur der Seele, die einen vernünftigen Teil beinhaltet, ist es möglich, diese Schlussfolgerungen aus dem Begriff des Rechts zu erschließen. Wer eine vernünftige Seele des Menschen annimmt, bezieht diese Vernunft auf die Idee des Rechten und damit auch auf die Idee des Guten. In der Seele findet der Mensch den Maßstab des Guten.
