Als wesentliche Erkenntnis der ersten Zeilen des Zweiten Buches über die Gesetze kann festgehalten werden, dass der Mensch gleichzeitig verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit angehört. Unterschiedliche politische Gebietskörperschaften sind der Ausgangspunkt: Cicero, gebürtig in Arpinium, sieht in der Stadt am Liris den Ort seiner Familie. Die Bedeutung, die er der lokalen Verbundenheit zuweist, ist vor dem Hintergrund der Relevanz der Ahnen in der römischen Kultur verständlich. Sie leben, auch wenn sie verstorben sind, in der Erinnerung fort, ihre Taten sind unvergessen und Anreiz, ihnen nachzuahmen. Gleichfalls jedoch übergreift der politische Gesamtstaat, die res publica, die partikularen Orte. Sie sind, im Zuge der Verbreitung des römischen Bürgerrechts, in das politische Gesamtsystem integriert worden. Lokale Angelegenheiten bleiben dennoch in der Kompetenz der Einzelstädte. Es kann von einem System der abgestuften Kompetenzen gesprochen werden, einem Vorläufer des Föderalismus.
Diese gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Welten zeichnet ebenfalls den Menschen in der platonischen Weltsicht aus. Der Mensch bleibt als natürliches Wesen den Gesetzen und Bedingungen der äußeren Welt unterworfen. Als menschliche Besonderheit ist die geistig-seelische Begabung zu benennen, sie entsteht nicht – nach Platon – aus und in der Natur, sondern verweist auf die Welt der Ideen. Die Idee der Freiheit ist beispielsweise aus der Natur nicht ableitbar – hier herrscht das Gesetz der Kausalität: Eine Ursache führt zu einer Wirkung, oder aus einer bestimmten Wirkung kann auf eine Ursache geschlossen werden. Um die Idee der Freiheit dann zu bestimmen, im Sinne einer aus dem Menschen spontan und unvorhersehbar entspringenden Handlung, muss der Rahmen der natürlichen Bedingtheit verlassen werden. Dies führt zum Reich des Geistes, der nicht schematisch oder bestimmbar handelt. Für Cicero ist – für die Sicherung von Recht, Gerechtigkeit und Freiheit – diese Welt der Ideen der Ausgangspunkt.
Aber damit wird zum einen weder der Eigenwert der Natur verneint: Der Mensch bleibt ein natürliches Wesen. Es werden aber auch zum anderen die geistigen Anlagen des Menschen nicht auf eine reine Funktion des Körpers reduziert. Gerade im Zusammenspiel beider Zugänge zur Welt erlebt sich der Mensch als freies Wesen, mit Vernunft begabt und vom Guten inspiriert. Aus dem Guten erwächst das Schöne. Die Idee des Guten genügt sich selbst, kein höherer Bezug ist prinzipiell denkbar. Wenn dieser Gedanke erlebt wird, entsteht die Idee der Schönheit. Und mit der Idee der Schönheit partizipiert der Mensch als natürliches Wesen an der Welt der Ideen.
Cicero, Quintus und Atticus setzen nun das Gespräch fort, die Insel ist erreicht. An das erste Gespräch soll angeknüpft werden: „Bei Juppiter beginnen die Musen.“ (Leg II, 77). Mit dieser Bemerkung Ciceros, auf die Musen als inspirierende Personen sich beziehend, erfährt das Gespräch eine besondere Wendung. Nun stellt Cicero fest, dass mit den Göttern zu beginnen sei.
Es soll erneut auf das Wesen und die Natur des Gesetzes eingegangen werden, bevor die einzelnen Rechtsnormen diskutiert werden. Cicero erinnert daran, dass das Gesetz, in seiner Struktur als verbindliche Anordnung, etwas Ewiges sei, um die Welt mit Weisheit zu regieren. Der Ursprung sei göttlicher Art. Die damit verbundene Wirkung zu rechtem Tun aufzufordern und von Unrecht abzuhalten ist älter als es Menschen und Staaten sind, sie ist so alt wie jener Gott, der Himmel und Erde beschützt. (Vgl. Leg II, 81).
Staaten sind daher bewusst geschaffene soziale Einrichtungen, um das Leben und das Verhalten der Menschen allgemein verträglich zu strukturieren. Ihre Gründung fällt in den Lauf der Geschichte. Gänzlich außerhalb der Geschichte jedoch steht – für Cicero – die Idee des Rechts. Sie kann eben nicht als ein zufällig entstandenes soziales Konstrukt betrachtet werden. Vielmehr ist sie die unverzichtbare Bedingung dafür, dass in geschichtlicher Hinsicht Staaten entstehen konnten, die eben nicht eine faktische Machtstruktur normativ verfestigten, sondern die eine objektive Rechtsordnung schufen, die über die Partikularinteressen hinausreichen.
Cicero betrachtet weiter das Wesen des göttlichen Geistes aus den sich ergebenden Folgen. Denn mit dem Begriff des Göttlichen ist notwendig eine geistige Allmacht verbunden, deren Einsichten weder durch die beschränkte Perspektive noch durch die Eigeninteressen der Menschen getrübt sind. Daher ergibt sich für Cicero, dass die göttliche Vernunft das Richtige und das Falsche bestimmen kann. Eine göttliche Erkenntnis des Guten und Falschen ist unabhängig davon, ob dieses Gesetz schriftlich vorliegt, es ist angelegt im Begriff der göttlichen Vernunft selbst. In gegenwärtigen Begriffen wäre eher von einer natürlichen vorstaatlichen Ordnung zu sprechen. Am Begriff der Menschenwürde ist dies konkret zu benennen. Hier liegt die Würde im Mensch-Sein selbst begründet, sie kann nicht entzogen werden, ohne das Mensch-Sein selbst zu verletzen.
Die Vernunft formuliert ihre Gesetze, bevor diese Regelungen verschriftlicht sind, diese Vernunft ist entstanden mit dem göttlichen Geist selbst.
Quintus stimmt dieser Ansicht zu. Die staatliche Gesetzgebung ist ein Reflex, eine Übernahme einer an sich schon bestehenden Ordnung. Sie ist eben nicht konstitutiv in dem Sinne, dass erst der Staat die Rechtsordnung schafft. Die göttliche Rechtsordnung, dass das Gute zu verwirklichen und die Gerechtigkeit anzustreben sei, geht vielmehr den Staaten voraus. Damit ist dann auch die Möglichkeit gegeben, die Qualität eines Staates zu bewerten: Gerechte Staaten sind Staaten, die dem natürlichen Recht folgen, ungerechte Staaten sind Staaten der Willkür einzelner. Diese Struktur ist die Grundannahme des modernen Verfassungsstaates. Die unverzichtbaren Menschenrechte und die Gleichheit aller Menschen sind bereits bei Cicero und im römischen Verfassungsdenken vorhanden. Auch wenn diese Gedanken anders benannt sind, in der Sache ergibt sich dies aus der theoretischen Herleitung des Rechts und seiner inneren Struktur.
